Hören & Sehen
Dorothea Schulz und Katrin Ströbel in der Städtischen Galerie Offenburg
Ein Schiff ist irgendwann 2009 auf der Rhone bei Valence vorüber gefahren, der Name war „Bounty“, ein anderes hieß „Adventurer“ und noch ein anderes „Frelon“. Längst sind sie irgendwo anders, Katrin Ströbel hat nur die Namen in der originalen Typografie festgehalten und auf das weiße, neutrale Blatt gebannt, in Reih und Glied auf der Wand bilden sie: „Les Bateaux“. Ohne diesen Hinweis, wäre das eine rätselhafte, im besten Falle neugierig machende Versammlung von Schriftzügen; der eine Fingerzeig, der Titel der Arbeit (Die Schiffe) genügt und schon fängt die Phantasie an zu arbeiten. Der gefundene, bzw. der nach einfachen Gesetzen gesuchte Text evoziert eine Situation an den Ufern der Rhone, vor dem inneren Auge der Rezipienten ziehen betagte Lastkähne, Vergnügungsdampfer oder leichte Bote vorüber. Die Versammlung der Worte ist fast schon ein lyrisches Gedicht, das Sehen der Worte produziert Klänge, die Zeichnung tönt, selbst der Schrei der Möwen ist nicht ganz aus der Welt, mancher der Schriftzüge scheint das Stottern eines alten Motors, das tiefe Tuckern einer zuverlässigen Maschine zu beschwören, es richt ein ganz wenig nach Dieselkraftstoff. Die nüchterne Installation hält indessen das assoziierende Wuchern der Phantasie in Grenzen, die dokumentarische Reihung reguliert den Zufluss von Außen. Die Gattung der Zeichnung ist offen, sie leitet die Wahrnehmung aber zwingt sie nicht und, wenn das ein Gedicht ist, dann allenfalls ein Stück konkrete Poesie: Nichts als die Namen und ihre Typografie und doch ein tönender Kosmos. Unterdessen ziehen weitere Schiffe den Fluß hinauf und hinab ...
Die Verhandlung ist vorbei, das Gericht hat sich zurückgezogen, das Urteil wurde gesprochen, die Protokolle verschwinden in den Akten. Die einen gehen nach Hause, die anderen ins Gefängnis. Dorothea Schulz hat Augenblicke des Prozesses festgehalten. Eine Tageszeitung kann mit diesen „Gerichtszeichnungen“ nichts anfangen; diese Aufzeichnungen haben ihre eigene Wertigkeit. Die Betroffenen brauchen sich keine Sorge zu machen, sie sind für Unbeteiligte nicht zu erkennen, im white cube des Kunstbetriebs weht ohnehin ein anderer Wind. Die Geschichten, die vielleicht mal soziale Tragödien gewesen sind, haben sich in einem unabhängigen ‚Prozess’ von Bild und Text transformiert. Erzählen wird so einerseits zu einer essentiellen Gedankenbewegung, zu einem intuitiv nachvollziehbaren Konzentrat, ist aber andererseits schwer zu fassen. Nur noch ganz wenig von dem alten Schweiß, vom Blut und dem billigen Parfum kann erahnt werden, die Satzfetzen mäandern über die Blätter, Frage und Antwort sind nicht immer zu trennen, stolpern über die Details oder kleben an kurz gefassten Bildchen. Die Einzelteile schwimmen im Bewusstseinsstrom dieser stotternden Protokolle. Von abstrakten Comics wurde in diesem Zusammenhang schon mal gesprochen. Große und kleine Worte, fette und hohle Buchstaben, gelegentlich gefasst in schwere Schatten, haben freihändig Platz genommen. Festgehalten wird das alles in Versalien, die Dorothea Schulz zu ihrer Auszeichnungsschrift entwickelt hat: Offiziös und unverwechselbar. Obwohl in der Groß- und Kleinschreibung auch ein Laut und Leise stecken könnte, scheinen diese Zeichnungen still zu sein, sie erschließen sich im Lesen. DAS DARF DOCH NICHT WAHR SEIN. Die das gesagt haben könnte, ist dementsprechend verdreifacht, vielleicht kommt von ihr aber nur die kleinlaute Antwort: VERSUCHEN SIE’S IM ANWALTSZIMMER 6437. Die Prozesse laufen weiter ...
Schrift ist Zeichnung, sie dringt ins Bild, sie hat Teil an der epischen und dokumentarischen Gemengelage. Die Rede ist von verbalen Umrisslinien, gemeint sind punktuelle Befunde, es geht keinesfalls um Redseligkeit, sondern um den durchaus elementaren Gebrauch knapper Setzungen innerhalb eines wahlverwandten Verweissystems. Piktorale Reinheitsgebote, nach denen die Sorten des Ausdrucks sauber zu trennen sind, greifen hier nicht: Die Schreiberinnen zeichnen, die Zeichnerinnen schreiben, es muss gar nicht erst an die alten Traditionen der Kalligraphie erinnert werden. „Selbst, wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich“, hat schon mit einem ironischen Seitenblick auf die eigene Produktion und die Lust, sie und die ihnen subsumierten Welten ständig zu signieren, Joseph Beuys gesagt. Danke! Und so selbstverständlich wie das Zeichnen ein besonderes Schreiben, genauso ist Lesen eine Spielart des Sehens. Vorsichtig, die Rezipienten denken mit! Auch die Konzeptkunst war schon immer im besonderen Maße auf die Schrift angewiesen, die Schreiberin Hanne Darboven, die Tage, Monate und Jahrhunderts mit wenigen oder unendlich vielen Zahlen und manchmal auch mit Worten und anderen Fundstücken ausrechnen konnte, war eine der großen Zeichnerinnen des Jahrhunderts. 1982/83 schlug Heiner Blum „Alarm“ mit stehengebliebenen Schlagworten der tagtäglichen Zeitungslektüre in den geschwärzten Grundrissen ihrer Fundstellen: „Angst“, „leer“, „ich“, „Maria“; das Genauste ist auch das Freieste. Es gibt eine seltsame Schönheit der Sachverhalte! Der Amerikaner Mark Lombardi hat in sorgfältig ausgezeichneten Stammbäumen Diagramme verführerischer Verflechtungen niedergelegt, deren Kreise sorgfältig beschriftet sind. Die Möglichkeiten und Verweise in dieser Richtung sind (fast) unbegrenzt, die Ahnenreihe medialer Verflechtungen ist riesig, die genannten Beispiele sind zufällig. Zeichnung und Text haben eine gemeinsame Vergangenheit und Gegenwart im Entwurf; von dem, was ist, taucht die Möglichkeit dessen, was sein könnte, auf.
Das Dokumentarische, das bei Schulz und Ströbel einen nicht unbeträchtlichen Faktor ausmacht, kann täuschen. Die Zeichnerinnen erkunden und übersetzen, sie machen die Umstände, von denen sie sich anstoßen lassen, zu einer eigenen Erfindung. Die Anlässe geraten nicht ganz außer Sichtweite, die Wegweiser zeigen eine neue Richtung an. Vielleicht sind das im übertragenen Sinne auch Briefe aus partiell unbekannten Terrains, neutralisiert auch ein ganz klein wenig formalisiert mit einem unvermeidlichen Zug von Konzeptkunst. Beiseite gesprochen: Ohne Konzept geht im Übrigen heute gar nichts mehr. Die Künstlerinnen lösen selbst inszenierte Aufgaben, sie bewegen sich in den eigenen Versuchsanordnungen, sie begeben sich auf Forschungsreisen. Es geht um das Aufspüren von Orten, deren Besonderheiten und Rituale auf die Form der Zeichnung zurückfallen. Bei Schulz wären das zum Beispiel die Gerichtssäle in Stuttgart und Berlin, eine selbst arrangierte Gesprächssituation oder die Aneignung des Französischen in Valence, wo Ströbel, die darüber hinaus in der ganzen Welt unterwegs ist, die Schiffe auf der Rhone vorüberziehen sieht. Letztlich kreisen die Systeme der einverleibten Augenblicke und ihrer Soziologie um sich selbst und ernähren damit die Zeichnung. Solch eine Autonomie unterscheidet diese Imaginationsarbeit von der Volkshochschule. Sie halten fest, was vorüberzieht: Gefühle, Eindrücke, Fetzen, - wie das geschieht, bestimmen die Künstlerinnen ganz allein. Die jeweilige Zeichnung bildet weniger etwas ab (die Schiffe auf der Rhone, der Gang der Verhandlung), sie trägt zuerst die Züge der entsprechenden Vorgehensweise. Die Idee, beide Künstlerinnen in einer Ausstellung zu zeigen, ist nicht aus der Luft gegriffen, trotz einer natürlichen Nähe, trotz vergleichbarer Stategien, gibt es fundamentale Differenzen. Die frei gehängte Wortliste („Le Mots du Jour“) von Dorotheas Schulz’ Sprachstudien in Valence sieht nur von weitem so aus wie Ströbels Aufmarsch der Schiffsnamen. Schulz ringt mit der Sprache, sie zwingt sie in eine Ordnung, für die sie sogar die sicheren Versalien vergisst. Auch im gerade entstehenden „Zimmer der Zeichnerin“ gibt es typografische Seitensprünge, ganz abgesehen davon, dass der frei herabhängende Raum von vielen Bahnen aus Dünndruckpapier die Zeichnung (3,50 x 6,00 x 2,50 m) selber ist. Die Papierskulptur zittert. Bei Ströbel machen die Zeichen gelegentlich andere Eskapaden, sie hinterlassen auf den billigen, bunten Plastiktüten, die man zum Beispiel auf dem Vielvölkerflecken Paris beim Einkaufen bekommt, einen Fingerabdruck. „import export“: Die fragilen Tüten rascheln. Ein Aspekt, der unterscheidet, auch wenn er nicht immer trifft: Die eine zeichnet eher, was sie hört, die anderer eher, was sie sieht. Das Gehörte schweigt bei der lesenden Wahrnehmung, das Gesehene tönt beim Schauen!
Manchmal läuft der Text parallel zu den Bildern mit. Das eine ist das Unterbewusstsein des anderen. Katrin Ströbel zeichnet Gespräche mit marokkanischen Kolleginnen und Kollegen auf, unmittelbar danach illustriert sie das Gesagte mit ihren assoziativen Zeichen. Jeweils fünf Zeichnungen dazu müssen es sein. Eines von diesen Blättern darf die befragte Person sich aussuchen und behalten; in der Ausstellung erscheint es als gescanntes Surrogat, als blasser Stellvertreter in der Reihe der Originale. „Und, wenn du mich fragst, warum ich Künstlerin bin, kann ich Dir ganz klar und deutlich antworten“, sagt Jamila (= Jamila Lamrani, geboren 1972 in Elouchiema, lebt und arbeitet in Salé): „Weil das meine Art zu leben, zu existieren ist.“ Abgesehen davon, dass damit ein grundsätzliches Wort gesagt ist, das auf beide Zeichnerinnen (Jamila und Katrin) zutrifft, hat dieser Text, der so nur in dem kleinen Katalogbüchlein erscheint (KS, Marokkanische Gespräche, Frühjahr 2007), eigentlich vier Existenzformen, als gezeichneter Denkraum, als französisches Original, in der deutschen Übersetzung und in der arabischen Fassung, die von der anderen Seite auf das Zentrum von Wort und Bild zuläuft. Denn hier, zum Beispiel in Marokko, schreibt man von rechts nach links. Paradigmatisch hat Ströbel das auch schon in einem Video realisiert, das arabische Wort „shouf“ und seine Übersetzung, also: „schau“ laufen geschrieben aufeinander zu. In den „Marokkanischen Gesprächen“ laufen Text und Bild im übertragenen Sinne aufeinander zu, ohne sich wirklich gegenseitig zu erklären. Hinsehen! Das Feld für Vermutungen ist weit, um noch mal bei Jamila zu bleiben (eben: shouf), so tauchen die Materialien ihrer Arbeit („Stoffe, Plastikperlen, Schnüre“) auf, vielleicht ist deren Suche nach einem Intimbereich (gerade weil sie kein eigenes Atelier hat) durch den mikroskopischen Ausschnitt der Kopfhaut gemeint. Oder es hat sich eine Ebene eingebracht, die aus dem Text selber nicht mehr zu rekonstruieren ist. So eine, partiell schon reportagehafte Textbreite ist möglicherweise eine Ausnahme. Immerhin gibt es auch bei Dorothea Schulz gelegentlich Hörzeichnungen oder Gesprächsprotokolle, die aussehen wie eine überkochende Buchstabensuppe. Die Zeichnung vibriert im horror vacui eines sich selbst neutralisierenden Informationsgedrängels. Das Gesagte oder Aufgezeichnete transzendiert sich in das Ornament des eigenen Überflusses.
Was nicht erfasst wurde, und das ist das meiste, muss in den Zwischenräumen aufgesucht werden: Lesen zwischen den Zeilen! Die Zeichnung kommt, so gesehen, als Fragment daher, der dokumentarische Ursprung läuft als gestischer Rest mit. Das ist eine reizvolle Reibungsfläche. Bei Dorothea Schulz wird aus dem Fragment oft eine heftige Deformation oder ein eckiger Auftritt. DIE MENSCHEN AUF DER TITANIC HATTEN ZWAR GESUNDHEIT, ABER KEIN GLÜCK. Sprüche wie dieser sind (launige) Verlautbarungen der Krise, Text und Bild geraten bei diesem Fingerhakeln manchmal in Platznot. Dabei ist das „Band“ dieses Elends nicht weniger als 10 Meter lang (Aquarellpapier von der Rolle), es kann bewegt werden. Wie ein Film oder eine animierte Tapete laufen dann die großen und kleinen Tragödien des Alltags am Auge der Betrachter vorüber, eingefasst zwischen dem, was oben ab- und unten aufgerollt wird; oder umgekehrt. Bilder und Sentenzen wagen den Reigen, die Fragmente verbiegen sich zu kurvigen Wechselbälgern, wie häufig bei Dorothea Schulz. Wer die anderen „Bänder“ (Paris & Berlin) nicht kennt, hat so eine Zeichnung noch nie gesehen. Die aphoristisch agierende Aufzeichnung ergreift notwendigerweise nur ein kleines aussagekräftiges Stückchen, einen strukturierten Rest, der Schlüsse auf Mehr zulässt und badet sie diesmal in üppiger werdenden Farbflüssen. Die Lust am Untergang tritt quietschbunt auf. Im „Zimmer der Zeichnerin“ ist die Krise inzwischen verblasst. Anders gesagt: Etüden, Realitäten und Sentenzen werden wieder s/w aufgespießt. „Vous etes dans un espace non“, an dieser Stelle reißt der Satz ab, den Ströbel in Marseile entdeckt hat. Er steht wie für eine Armada städtischer Hinweisschilder, wie man sie nicht nur in Frankreich überall findet. Das Rauchen bleibt auf der Strecke, das Fragment steht aber für ein großes Ganzes, genauso wie die anderen Fundsachen in dieser Stadt, von denen die wenigsten Texte oder Sprüche sind, sondern angefangene Strukturen, winzige Kleinigkeiten; die Installation der insgesamt 85 Rahmen sieht aus wie eine Weltkarte. Auch solche Panoramen, selbst die „Großen Bänder“ sind Gedichte, vielleicht sogar Balladen, eine leise Eloge auf die Stadt Marseille wurde mit wenigen Strichen angestoßen, der schrille Reigen der Krise ist vorübergerollt. Aber: Das Leben geht weiter, auch nach dem Untergang. JETZT SIND NUR NOCH MAMA UND PAPA DA, DIE BRÜDER SITZEN ALLE, resümiert jemand, der sich besser auskennt schon zu Beginn der Verhandlung (Stichwort: „Wetzstahl & Schlüsselbund“ 18.07.07), und längst sind zahlreiche weitere Schiffe die Rhone hinab und hinaufgefahren, eines hieß „Popeye“ ein anderes „Nirvana“.
Reinhard Ermen
Text veröffentlicht in: Suzie Wong meets Becky Thatcher: Sieben Räume von Dorothea Schulz und Katrin Ströbel, 2010
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