D‘une passante

„Flaneure sind Künstler […]. Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit, sie gehören zur Stadt, die ohne sie undenkbar ist, sie sind das Auge, das Protokoll, die Erinnerung, das Urteil und das Archiv, im Flaneur wird sich die Stadt ihrer selbst bewußt.“ 1

Seite an Seite verlaufen Rhône und die Autoroute du Soleil von Lyon bis ans Mittelmeer. Auf ihrem Weg passieren sie Valence, wo sich die Schnellstraße besonders eng an den Fluss drängt. Die beiden Verkehrsströme fließen an der Stadt vorbei, spülen Reisende an und reißen sie wieder mit sich fort. Valence ist kein Ort der Ankunft und des Bleibens, sondern eine Durchgangsstation, eine Stadt des Transits zwischen Nord und Süd.
Wie die Zugvögel in Katrin Ströbels Video „escale“ (2009) stranden sie in den Herbstmonaten in der Stadt: die Obdachlosen, Landstreicher und Herumtreiber auf ihrem Rückzug in wärmere Gefilde. Als unliebsame Besucher üben sie sich in Unsichtbarkeit – Einzelgänger, die sich unbemerkt in den Alltag der Stadt einfügen und sich abseits der repräsentativen Straßenzüge ein provisorisches Zuhause einrichten.
Bei ihren Streifzügen durch Valence hat sich die Künstlerin auf die Suche nach diesen modernen Nomaden gemacht. In rund 30 schriftlichen „portraits“ (2009) zeichnet sie ihre Begegnungen mit den Deplatzierten und Ver-rückten auf und schenkt damit denjenigen Aufmerksamkeit, über die meist aus Ignoranz oder falsch verstandenem Schamgefühl hinweggesehen wird. Katrin Ströbel übersetzt ihre präzisen Beobachtungen bewusst in das abstrakte Medium der Sprache und lässt so im Kopf des Lesers Szenen entstehen, die sich von spontanen Momentaufnahmen und konkreten Personen lösen. Sie beschreibt Typen, wie sie in jeder Großstadt zu finden sind, und entwirft so ohne moralisierende Untertöne ein differenziertes Bild von den Randexistenzen der urbanen Gesellschaft.
Der Frage nach der persönlichen Verortung geht auch die Arbeit „wherever I lay my head“ (2009) nach. In ihrer Fotoserie dokumentiert Katrin Ströbel die Überbleibsel, behelfsmäßigen Behausungen und versteckten Depots der Heimatlosen. Kartons und Planen passen sich in verborgene Nischen der städtischen Architektur ein, Tüten mit den wenigen Habseligkeiten sind auf Bäumen versteckt, die Decke auf der Bahnhofsbank markiert die Grenze zwischen öffentlichem und als privat annektiertem Raum. In der Bleibe, so temporär und provisorisch sie auch sein mag, offenbart sich das Grundbedürfnis nach einem Rückzugsort vor dem klimatisch wie gesellschaftlichen Ausgeliefertsein.
Ein umgestülpter Pappkarton genügt, um eine Demarkationslinie zwischen Eigenem und Fremden zu bilden. Katrin Ströbels Installation „maison pour vivre“ (2009) besteht aus einer ebensolchen Kartonhütte. Wie eine Fototapete ist das Bild eines Waldstücks hineinprojiziert, vor dem ein Schild mit der Aufschrift maison pour vivre aufgestellt wurde. Das Innen wird
durch ein projiziertes Außen konterkariert, in dem wiederum ein Innen (ein Haus zum Wohnen) in Aussicht gestellt wird. Der vermeintliche geschützte Raum erweist sich als durchlässig und damit hinfällig. Öffentlich und privat durchdringen sich und bleiben gleichermaßen Illusion.
Selbst eine Durchreisende, eine Streunerin, folgt Katrin Ströbel den Spuren des Transitorischen innerhalb der Stadt und lässt sich dabei durch die Straßen treiben wie die blaue Plastiktüte, die der Mistral in ihrem Video „flâneur“ (2009) davonweht. Auch sie ist eine Flaneuse, die zufällige Ereignisse und scheinbar Belangloses als fragmentarische Skizzen sammelt, um sie anschließend in andere, aufschlussreiche Sinnzusammenhänge zu stellen. Die der Zeichnung immanente Eigenschaft der Reduzierung auf das Wesentliche erweist sich für die Künstlerin als ideale Voraussetzung zur Aneignung und Reflexion des Gegebenen. Im kontemplativen, geradezu pedantischen Akt des Zeichnens bannt sie die ephemeren Ereignisse auf Papier und lässt ihnen eine Aufmerksamkeit zukommen, die dem flüchtigen, marginalen Objekt neue Bedeutung verleiht.
Für die Serie „les bateaux“ (2009) hielt Katrin Ströbel die Namen aller, auf der Rhône vorbeiziehenden Schiffe fotografisch fest und übertrug sie anschließend per Bleistift in Originaltypografie akribisch auf Einzelblätter. Ihrem ursprünglichen Kontext entrissen und als Tableau präsentiert, treten die typologischen Gemeinsamkeiten deutlich zutage: Eine Vielzahl verheißungsvoller Namen wie Odysseus, Bounty oder Adventurer zieren die Lastschiffe. Sie künden von den Sehnsuchtsbildern des Reisens, von Abenteuern sowie der Überwindung von Grenzen und stehen damit in merkwürdigem Gegensatz zur modernen, funktionalen Güterschifffahrt und den kurzen, gut kalkulierbaren Strecken, die die Schiffe auf den Binnengewässern Frankreichs zurücklegen.
Von der Faszination des Fremden und Exotischen zeugt auch das Maison Mauresque, das im Stil des französischen Orientalismus Mitte des 19. Jahrhunderts in Valence errichtet wurde. Katrin Ströbel stellt in ihren großformatigen Zeichnungen die Fassade des prächtigen Hauses einem gesichtslosen Sozialwohnungsbau am Stadtrand gegenüber. Sie sind gewissermaßen die „maurischen Häuser“ der Gegenwart, vorrangig bewohnt von Immigranten aus dem Maghreb. Bildeten sie während der Orientbegeisterung im 19. Jahrhundert noch Projektionsflächen für Haremsphantasien und das Bild vom „edlen Wilden“, sehen sich die Einwanderer aus den afrikanischen und arabischen Ländern heute an den Stadtrand gedrängt und damit gesellschaftlich marginalisiert. Nicht von ungefähr finden sich Graffiti in der Stadt, die dem rechtsgerichteten Politiker Le Pen applaudieren – ein Name, den die Künstlerin durch eine kleine Korrektur kurzerhand in leben verwandelt.
Sämtliche Arbeiten, die Katrin Ströbel in Valence geschaffen hat, beschäftigen sich mit Fragen der Migration im weiteren Sinne, der geografisch wie sozialen Verortung, der Heimatlosigkeit. Bemerkenswerterweise existiert in der französischen Sprache kein ebenso
mehrdeutiger Begriff für Heimat wie im Deutschen. Wohl aber im Arabischen: der Ausdruck bled. Zwar hat er sich inzwischen als Lehnwort im Französischen eingebürgert, doch lediglich in seiner eindimensionalen Lesart als Bezeichnung für unbedeutendes Dorf. Wenn sich die Künstlerin also an eine Ausfallstraße bei Valence stellt und ein Anhalterschild mit dem Wort bled in die Höhe hält, dann entsteht eine ebenso poetische wie paradoxe Situation: Egal, ob das Schild in seiner original arabischen oder seiner eingeschränkten Bedeutung im Französischen gelesen wird, ihr allzu abstraktes Ziel wird die Tramperin sicherlich nicht erreichen.
Nun ist aber gerade nicht das klar definierte Ziel die Sache des Flaneurs, sondern der Weg selbst. Als Seismograf und urbaner Spurenleser verwandelt er jenes in Erkenntnisgewinn, das seinen täglichen Gang durch die Straßen kreuzt: das Gleichzeitige, Beiläufige, Heterogene. En passant.

Annika Plank war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kunstmuseum Stuttgart und arbeitet seit 2011 in der Abteilung Bildung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.

Text veröffentlicht in: en passant, 2010

1 Walter Benjamin, Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, Frankfurt a. M. 1972, S. 100.

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